Händels «Joshua»: Neue, interessante Akzente!
Für Sie (heraus-)gehört
Gleich zweimal, in Naters und in Turtmann, führten das «ensemble da capo» und das «kammerensemble luzern» unter Dirigent Peter Werlen das gut zweieinhalb Stunden dauernde Oratorium «Joshua» von Georg Friedrich Händel auf. Diese Aufführungen setzten in verschiedener Hinsicht gute neue Akzente in unsere Musikszene. Zum einen konnten wir, wohl zum ersten Mal von einem einheimischen Chor vorgetragen, ein Händel-Oratorium in der Originalsprache Englisch hören. Händel, obwohl Deutscher, schrieb seine Oratorien und Opern für sein Londoner Publikum natürlich in der dortigen Landessprache, die bei unserer jungen Generation immer populärer wird. Die Verantwortlichen der «Joshua»-Aufführung glichen Sprachlücken des Publikums oder die beim Singen sich ergebenden Unklarheiten durch fortlaufende Projektion der Übersetzung auf zwei grosse, hinter den Sängern stehende Leinwände aus. Dass das Singen in einer fremden Sprache für einen Laienchor wie «da capo» besondere Ansprüche stellt, muss nicht gesagt werden. Bemerkenswert war als zweites, dass auch eine Aufführung ausserhalb der zentralen Agglomeration Brig-Glis-Naters-Visp mit grossem Publikumserfolg möglich war: Beide Aufführungen waren praktisch ausverkauft. Ein drittes, für viele Zuhörer hier im Oberwallis sicher neuartiges Element, war das Auftreten eines Altus-Sängers. Den Vertretern dieses Gesangfaches war es vor Jahrhunderten, als die Frauen nicht in der Kirche singen durften, jeweils vorbehalten, die zweithöchste Stimme des vierstimmigen Satzes zu übernehmen. Die Altus-Männer sangen teils im Brustregister, teils falsettierten sie im Oberbereich. Ein damaliger Musiker schrieb dazu: «Der Alt gehört Jung gsellen zu, die lauften auff und ab on rhu.» Nun, der Frauen-Alt hat den Altus dann weitgehend verdrängt. In neuerer Zeit besann man sich wieder auf die Altus-Stimme, die gerade bei geschichtlich stilechten Aufführungen ihren Platz hat. Mit dem Einsatz alter Musikinstrumente, etwa ventilloser Blas- und darmbezogener Streichinstrumente und alter Bogen, trug das «kammerensemble luzern» — dies ein weiteres Kennzeichen des Gehörten — wesentlich zu einer solchen historischen Aufführung der alttestamentlichen Geschichte von «Joshua» bei. Zur Zeit dieses «Helden» stürzten bekanntlich die Mauern von Jericho unter dem Klang der Musikinstrumente ein. Dies, aber auch die Darstellung der Liebe zwischen Othniel und Achsah gab Händel Gelegenheit zur Gestaltung einer grossartigen, Geist und Herz ansprechenden Musik, die manchmal auch mit Lautmalereien spielt.
Das Solistenquintett mit Silvie Arlettaz (Sopran) als Achsah, Urs Weibel (Altus) als Othniel, Donat Burgener (Tenor) als Joshua, Hans-Peter Scheidegger (Bass) als Caleb und Dominik Carlen (Knabensopran) als Engel wirkte insgesamt recht ausgeglichen. Frau Arlettaz hat eine reine, in allen Lagen sichere, Innigkeit ausstrahlende, helle und nicht zu kräftige Stimme. Sie kam etwa in der «Vogelchor»-Arie, aber auch im Liebesduett mit Othniel sowie auch sonst in manchen Da-capo-Arien zur Geltung. Altus Urs Weibel gestaltete seinen Part ohne forcieren zu müssen und mit warmem Ausdruck. Erinnert sei an das Accompagnato «In dem gelobten Land...» des 1. Aktes oder an die Arie «Wenn Helden...» des 2. Aktes. Tenor Donat Burgener, Inhaber der Titelrolle des «Joshua», hatte schon durch die zahlreichen Rezitative einen grossen Anteil am Geschehen. Er sang, auch in den wenigen, ihm vom Komponisten zugeteilten Arien, kraftvoll, mit schönem Timbre, guter Aussprache und dramatischem Gespür. Gute dramatische Ausgestaltung lässt sich auch von Bass Hans-Peter Scheidegger sagen. Seine Stimme hatte Festigkeit, Umfang, Ausdruck, und unaufdringliche Kraft. Weniger gefiel uns seine englische Aussprache. Knabensopran Dominik Carlen wurde seiner Aufgabe als «Engel» einigermassen gerecht. Man hätte sich allerdings einen etwas stärkeren und frischer singenden «Engel» vorstellen können.
Das «ensemble da capo» sang die vielen Läufe und auch die fugierten Teile gepflegt, recht lebendig, den Text ausdeutend und mit grosser dynamischer Spannweite. Im Eingangschor «Ihr Söhne Israels» fielen die präzis und kräftig einsetzenden Stimmgruppen auf. Der Chor zeigte, dass er Linien durchsichtig singen und dass er auch im Wechselgesang mit den Solisten standhalten konnte. Der langsame Chor «Wie rasch sind unsre Hoffnungen» gelang, ohne auseinanderzufallen. Gute Qualität war auch das nicht gerade leichte «Ehre sei Gott» mit Tenor Joshua zu Beginn des 2. Aktes. All dies will nicht sagen, dass es in einem so grossen Werke wie «Joshua» nicht auch Probleme und Unklarheiten gegeben hätte. Insgesamt hat der Chor aber eine Aufführung geboten, die der heutigen Aufführungspraxis nahesteht. Viele, auch namhafte Dirigenten, lieben nicht mehr das bombastische Gedröhn und die pathetischen Gesten, mit denen noch vor einigen Jahrzehnten Händel Oratorien, etwa auch der «Messias», aufgeführt wurden. Der «da-capo»-Chor hat solches natürlich schon wegen seiner vergleichsweise kleinen Sängerzahl nicht tun können. Einen Trumpf hat diese Chor — auch vergleichsweise! — in Händen: Seine Sängerinnen und Sänger gehören einer jungen, begeisterten Generation an, der noch viel Zukunft gehört.
Das professionelle «kammerensemble luzern» mit Konzertmeister Dominik Kiefer hat einfühlsam und mit Spielfreude musiziert. Einzelne Instrumentalisten, etwa die stehend spielende Cembalistin Claire Anne Piquet, die Flötistin Maya Hünninger und die Hornisten haben ihren Part mit Präzision und hoher Musikalität vorgetragen. Dieses Orchester hat den Klang der alten Instrumente wunderbar zur Geltung gebracht. Es war allerdings zu erwarten, das gerade die alten Streichinstrumente sich in den zweieinhalb Stunden und bei wechselnder Luftfeuchtigkeit verstimme würden. Dies machte sich bei gewissen Schlusspartien von Tutti-Einsätzen etwas unangenehm bemerkbar — ohne der Gesamtleistung ernsthaft Abbruch zu tun.
Dirigent Peter Werlen hat uns mit knapper Zeichengebung ohne sich starmässig aufzuspielen, in durchaus eigenem Stil, auf das Wesentliche zielend und mit gutem Puls eine schöne und anerkennenswerte Aufführung geboten. Sie ist, wie gesagt, durch das professionelle Orchester aus Luzern wesentlich erleichtert worden. Die Frage, bis zu welchen Grad wir bei Aufführungen unserer Liebhaberchöre teure Berufsorchester einsetzen sollen, ist strittig. In dieser historischen «Joshua»-Aufführung war ein solcher Einsatz allerdings wohl kaum vermeidbar.
Walliser Bote – 28. März 1996