«ensemble da capo»: Ergreifende h-Moll-Messe

Für Sie (heraus-)gehört

Jetzt haben wir also endlich auch unsere, von einem einheimischen Chor gesungene und von einem unserer Dirigenten gestaltete Bach’sche h-Moll-Messe! Dies ist ein Ereignis, das es zu würdigen gilt. Es wurde am vergangenen Samstagabend in der bis zum letzten Platz ausverkauften Pfarrkirche Naters auch von den Oberwalliser Musikfreunden begeistert zur Kenntnis genommen. Ein von Projektleiterin Anastasia Ritz-Fantoni vorbildlich gestaltetes Textheft erleichterte ihnen den Zugang zum Werk. Dirigent Peter Werlen und sein Chor «ensemble da capo» zeigten mit dieser Aufführung, dass frischer Unternehmungsgeist, Liebe zur Musik und ernste musikalische Arbeit auch bei uns hochrangige kulturelle Leistungen hervorbringen können. Die oft als «Opus summum» (=grösstes Werk) Johann Sebastian Bachs genannte Messe in h-Moll bietet bekanntlich Schwierigkeiten, die für einen weitgehend aus Laien bestehenden Chor nicht ohne eiserne Disziplin und auch nicht ohne Kreativität überwunden werden können. Und beides hatte das «ensemble da capo». Es wuchs dann in der Aufführung buchstäblich über sich hinaus. Geführt von einem bescheidenen, wirkungsvoll und ehrfürchtig gestaltenden, keine Effekthascherei anstrebenden, klare Visionen umsetzenden und ganz im Dienste des Werkes stehenden Dirigenten Peter Werlen, ist ihm mit der h-Moll-Messe ein ergreifendes Jubiläumskonzert gelungen, das in die Geschichte unserer einheimischen Aufführungen eingehen wird.

Samstagabend in der Natischer Pfarrkirche: Freude der Beteiligten über die gelungene Aufführung von Bachs h-Moll-Messe.

Das sich an der Barockzeit orientierende Konzept der Aufführung hat sich bewährt. Mit 45 Sängerinnen und Sängern entsprach der Chor «da capo» den Möglichkeiten, die Bach selbst für grössere Aufführungen zur Verfügung standen. Der Thomaskantor, der die h-Moll-Messe allerdings kaum als Ganzes aufführte, studierte ja für die Gottesdienste in den Leipziger Kirchen drei Chöre zu zwölf und einen Chor zu acht Sängern ein, von denen er — so wörtlich — nur den «Chorus primus» (ersten Chor) für seine eigenen, lohngleich schwierigen und intrikaten (= verwickelten) Werke als geeignet betrachtete. Weiter Entscheidendes zur historischen Aufführung in Naters trug auch das von Konzertmeister Dominik Kiefer geführte Orchester «Capriccio Basel» bei. Die nachgebauten Barockinstrumente, etwa die mit Darmsaiten belegten Violinen, die ventillosen Blasinstrumente, die hölzernen Querflöten usw. entwickelten einen eigenen, geradezu samtenen, dennoch aber nach Bedarf kräftigen Klang. Das Orchester spielte in den Streichern leicht und mit sehr guter Einfühlungsgabe. An vielen Stellen des Werkes wiesen sich auch seine hervorragenden Solisten aus: Konzertmeister Kiefer auf der Violine, die Flötistinnen Stefanie Schacht und Sarah Giger, die Oboistinnen Kerstin Kramp und Henriette Gröger, die Fagottisten Eckhard Lenzing und Nikolaus M. Broda, die Trompetisten Frans Berglund, Andrew Hammersley und der sensationelle Hornist Simon Lilly sowie der Paukist Felix Eberle. Das Orchester zeigte mit Izumi Ise an Orgel und Cembalo, mit Felix Knecht und Jean-Marie Quint am Cello und Matthias B. Frey am Violone auch ausgezeichnetes Continuo-Spiel.

Wie schon kurz angedeutet, sang der Chor «da capo» die h-Moll-Messe in einem Format, das man ihm zum vornherein nicht unbedingt zugetraut hätte. Er stand die zahlreichen Fugen, Doppelfugen usw. z. B. jene im «Confiteor» des Credo — mit Präzision und Natürlichkeit durch. Ebenso schön gelangen ihm andere kritische Stellen des Werkes: das achtstimmige «Osanna», das sechsstimmige «Sanctus», das durch den gesamten Quintenzirkel modulierende «Et expecto», den im Palestrina-Stil gehaltenen Eingang des «Credo» und das ergreifende «Crucifixus». Auf diesen Chor trifft das zu, was man sich von vielen anderen Chören im Oberwallis wünschen würde: lockeres, durchsichtiges, den Rhythmus voll mitlebendes, bewegliches Singen, das sich in den Pianos, in Steigerungen und in den schnellen Tutti-Passagen bewährte. Anerkennung verdient natürlich, dass eine solche Leistung über mehr als zweieinhalb Stunden mit Konzentration gehalten werden musste. Mit dieser Wertung soll das im Oberwallis auch schon gehörte A-Cappella-Singen mehrstimmiger, sehr schwieriger Bach-Motetten keineswegs herabgemindert werden. Es ist aber nicht zu übersehen, dass solche Wiedergaben vergleichsweise bedeutend kürzer sind. Der gewaltige, von Bach während 25 Jahren zu einem einzigartigen, künstlerisch strengen und einheitlichen «Kosmos» gearbeitete Aufbau der h-Moll-Messe, verlangte vom «ensemble da capo» eine Bemühung, die nun mit einem staunenswerten Erfolg belohnt worden ist. Danke für diese «Jubiläumsgabe» zum 10-jährigen Chor-Bestehen!

Bach hat dem Solisten-Quartett in diesem Werk grosse Aufgaben übertragen. In der Natischer Aufführung meisterte es diese im Ganzen homogen, mit Sorgfalt und spürbarem Engagement. Die Sopranistin Bea van der Kamp machte ihre Duette «Christe eleison», «Et in unum Dominum» zusammen mit der wunderbaren Altistin Heike Werner zu einem Erlebnis. Sie überzeugte auch in ihrem Part mit dem Tenor in «Domine Deus» durch einen reinen, über den ganzen Tonumfang sicheren Sopran. Herausragende Stimme des Abends war der warme, tragende, den Text mit hervorragender Diktion bis in die Einzelheiten ausdeutende und feinfühlig geführte Mezzosopran/Alt von Frau Heike Werner. Ihre Arien «Qui sedes» und «Agnus Dei» waren Glanzlichter der Aufführung. Bei ihrem «Agnus Dei» wäre allerdings ein manchmal leiser spielendes Orchester am Platze gewesen. Der junge Tenor Emiliano Gonzalez-Toro beeindruckte durch eine unforciert überlegene Tongebung und sicheren Wohlklang — dies etwa in seinem sehr klaren und reinen «Benedictus». Man darf diesem Tenor eine gute Zukunft voraussagen. Kräftige Konturen setzte Bass Marc-Olivier Oetterli in seinen Arien «Quoniam tu solus» und «Et in Spiritum Sanctum». Man hatte einmal mehr Gelegenheit, die Ausdrucksgewalt dieses Bassisten zu geniessen. Im Vergleich zu den übrigen Stimmen wirkte seine Darstellung allerdings manchmal eine Nuance zu schneidend kühl.

Auch wenn feststeht, dass Bach sehr viele Teile der h-Moll-Messe als so genannte «Parodien» aus früheren Werken entnommen hat — etwa die ersten vier «Kyrie»-Takte aus der «Trauerode» Werkverzeichnis 198, den «Gloria»-Beginn aus einem heute verlorenen Instrumentalkonzert — so ist in der «h-Moll-Messe» dennoch ein einheitliches Kunstwerk entstanden, in dem analog zu der für Instrumente komponierten «Kunst der Fuge» die Summe vokalen Schaffens Bachs aufleuchtet. Die vom Komponisten noch zwei Jahre vor seinem Tod überarbeitete und eigentlich kaum in Gottesdiensten aufgeführte «h-Moll-Messe» wurde in diesem Jahr 2000 als eines der grossen repräsentativen Bach Werke im Rahmen der Gedenkwochen zum 250. Todestag des Meisters auch in Leipzig aufgeführt. Mit der konzertanten Wiedergabe dieses überkonfessionellen, zum immerwährenden Kulturbesitz der Menschheit gehörenden Werkes in der Natischer Pfarrkirche hat das «ensemble da capo» auch bei uns einen würdigen Beitrag zum Gedenken an den universalen Musiker J.S. Bach geleistet.

ag.
Walliser Bote – 7. November 2000