Zwischen Furor und Kontemplation
Eindrücklich: Oratorium Tippetts in Aarau und Brugg
Trotz heissem Sommerwetter war die Stadtkirche Brugg am Sonntagabend zur Aufführung von Michael Tippetts Oratorium «A Child of Our Time» durch die «Aargauer Lerche der Engadiner Kantorei» zu zwei Dritteln gefüllt. Hinter dem umständlichen Namen verbirgt sich ein Ableger (wohl vor allem Ehemaliger) der Engadiner Jugendsingwochen, der seit dreissig Jahren anspruchsvolle Chorliteratur zur Aufführung bringt. Mit der Wahl und Ausführung von Tippetts bekanntestem Chorwerk gelang dem Ensemble ein überzeugendes Geburtstagsgeschenk für sich selbst. «A Child of Our Time» entstand während des Zweiten Weltkrieges. Der Mord, den die Nazis als Vorwand für die Pogrome der so genannten «Reichskristallnacht» benutzten, diente Tippett als Anstoss für eine humanistische Reflektion. Einfache Rezepte verweigert er, die Konsequenzen müssen vom Hörer selber gezogen werden.
Das reine Gotteslob von Stephan Simeons «Psalm 100», der vor dem Hauptwerk erklang, konnte demgegenüber fast naiv erscheinen. Das kurze Werk für Chor und acht Bläser des langjährigen Leiters der Lerche bildete mit seinem satten, oft blockartigen Chorsatz und den dominanten Trompeten und Posaunen eine mächtige, dynamisch aber eindimensionale Eröffnung. Differenzierter und farbiger dann das gut einstündige Oratorium. Obwohl Tippett auf eindeutige Rollenzuweisungen verzichtete, kommt dem Chor in erster Linie die emotionale Rolle des Ausdrucks der Klage, der Angst und auch der Wut zu. Die Lerche meisterte dieses breite Spektrum mit grosser Ausdruckskraft und gefiel durch kompakten Klang, ausgeglichene Register und rhythmische Präzision. In den melodisch und harmonisch eingängigeren Teilen wie den fünf eingebauten Spirituals sangen die rund fünfzig Choristen allerdings freier als in den zum Teil komplexen Nummern - am deutlichsten zu hören am Anfang des dritten Teils.
Mit dem Schweizer Kammerorchester (SKO) stand dem Chor ein junges und engagiertes Ensemble gegenüber, das mit sehr farbigem Spiel Akzente zu setzen vermochte. Dirigent Peter Werlen geriet einige Male in Gefahr, sich mit dem musikalische Sog zu knalliger Darstellung hinreissen zu lassen, fand aber immer wieder überzeugend den Weg zurück in ein differenziertes und die grossen Bögen berücksichtigendes Musizieren. Das hervorragende Solistenquartett mit Barbara Locher (Sopran), Regina Jakobi (Alt), Paolo Vignoli (Tenor) und Peter Brechbühl (Bariton) bewältigte den Grat von dramatischer Gestaltung und distanzierter Erzählfunktion auf nahezu ideale Weise.
Aargauer Zeitung – 4. June 2002
Tobias Gerosa